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Mein Smartphone und ich

Ich war heute kurz draußen und musste ganz schnell zurück nach Hause, denn ich hatte mein Handy vergessen! Seitdem denke ich darüber nach, wie konnte es so weit kommen? Seit wann sind wir ohne Smartphone keine vollständigen Menschen mehr? Vielleicht hilft uns die Medientheorie dabei es zu verstehen.

Eine kurze Geschichte der Menschen und Medien

In der Medientheorie hat sich vor allem der Philosoph Vilém Flusser mit der Frage beschäftigt, wie sich Menschen ein Bild von der Welt machen. Seiner Meinung nach sind wir von Natur aus ein „Mängelwesen“, das seine sparsame Ausstattung ständig versucht zu kompensieren. Deswegen gibt es so etwas wie Kultur. Weil wir diese ständig weiterentwickeln, gibt es Evolution. Lustige Sichtweise, oder? Ich hab es mal auf ein Schema gebracht, wie wir unsere Kulturtechniken gemäß Flusser weiterentwickelt haben:

Wieder mal eine super korrekte Darstellung komplexer Zusammenhänge von Anna-Maria Palzkill 2022 (c) : Diesmal die Medientheorie von Vilém Flusser.

Nachdem uns das reine Erleben des Lebens nicht mehr ausreichte, haben wir uns zuerst ein Abbild der Natur geschaffen in Form von Gegenständen und Skulpturen und waren komplett in 3D unterwegs.

Danach haben wir die Welt (an die Höhlenwand) gemalt und sind mit den 2D-Zeichnungen einen Schritt weiter in der Abstraktion gegangen. Wir konnten so erstmals Konstellationen darstellen und über Vorstellungen und Gedanken sprechen.

Als sich dann „ein“ schlauer Kopf die Schrift ausgedacht hat, konnten wir über mehrere Seiten hinweg an Thomas-Mann’schen Schachtelsätzen arbeiten und die Geschichten ganzer Familiendynastien mit Ursachen, Folgen und Konsequenzen zeitlich und kausal geordnet darstellen.

Aktuell befinden wir uns in der Phase der „Technobilder“. Die Digitalisierung hat uns dieses „nulldimensionale Universum“ aus Bits und Quanten ermöglicht, mit dessen Hilfe wir Informationen nun technisch darstellen. Damit überwinden wir die Notwendigkeit von Texten und gelangen zu einer ganz anderen Auffassung von Raum und Zeit. Denn ein linearer Zeitverlauf und der geometrische Raum sind nur für die Menschen eine Selbstverständlichkeit, die mit Texten aufgewachsen und von Texten geprägt sind.

Da Herr Flusser bereits 1991 das Zeitliche gesegnet hat, konnte er seine Medientheorie nicht auf das Smartphone anwenden. Zum Glück bin ich jetzt da und kann diesen Job für ihn erledigen.

Aber zunächst möchte ich Euch mein erstes Handy vorstellen:

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Mein erstes Handy: Der Alcatel Knochen

Piep-piep-piep…bss…piep-piep, so saß ich 1998 im Matheunterricht in der letzten Reihe und versuchte mein erstes Handy in Betrieb zu nehmen. Es handelte sich um das Alcatel „one touch easy“, das heute als absolutes Retrogerät gilt und damals schon sehr uncool war. Es hatte keine Kamera, kein Internet und nicht mal Snake! Wie ich die Tastentöne ausstellen kann, habe ich leider erst nach der Mathestunde verstanden. Aber dies war mein Einstieg in die mobile Welt des Kontakthaltens, Erreichbarsein und der Angst vor einem leeren Akku.

Nach Snake kommt das Smartphone

Unendlich stolz war ich dann, das Nokia 7110 zu besitzen, das nach meiner damaligen Einschätzung „mehr wert ist als eine Mathelehrerin im Monat verdient“ und von Neo in Matrix 1 mega glamourös in den Papierkorb geworfen wurde.

Wir überspringen nun ein paar Jahre. 2009 mein erstes Smartphone. Jetzt beginnt es eigentlich erst mit meiner persönlichen medialen Revolution. Die Auflösung der Kamera, die Genauigkeit des GPS-Signals, die Festplattengröße, die Displayauflösung, die Prozessorgeschwindigkeit… beim Aufrüsten bin auch ich voll dabei.

Denn das Smartphone ist die Erweiterung meines Körpers: Es ist mein Gedächtnis, mein soziales Netzwerk, mein Portemonnaie, meine Nachrichtenquelle, meine Bibliothek und mein Spielpartner – kurz, die bessere Version meines Selbst.

Die ZEIT nennt es „Phono Sapiens“ und auch wenn sie Vilém Flusser vergessen zu erwähnen, haben sie einen schönen Rundumschlag geschaffen, wie sich unser Gehirn und unsere Kommunikation durch das Smartphone verändern. Die Zusammenfassung in Kürze: Es liegen noch nicht genug Studien vor, um zu beweisen, dass wir dümmer werden. Die Vermutung liegt jedenfalls nah.

Das vernetzte Denken in der Ära des Smartphones

Dank der Digitalisierung können wir die lineare Konsequenz geschriebener Texte überwinden und kommunizieren in einem einzigen Emoji unser komplettes Tagesgefühl. Alles wirkt gleichzeitig. Alle Perspektiven auf einen Fakt sind gleichzeitig wahr. Über ein einziges Interface ermittele ich die Höhe meiner Einkommenssteuer und es wird wahr. Virtuell übertragene Zahlen sagen mir, wieviel Geld auf meinem Konto parkt! Die Anzahl der rot aufblickenden Notifications zeigt mir wie es um meinen sozialen Status bestellt ist.

Meine beste Freundin hat neulich eine vereiste Pfütze in so hoher Auflösung fotografiert, dass man die einzelnen Eiskristalle heranzoomen konnte. Wenn ich nun ihre gute Kamera bewundere, bewundere ich eigentlich sie selbst und ihr hochauflösendes Erinnerungsvolumen. Sie wird noch bessere Erinnerungen haben als ich! 🤪

Als ich heute morgen also ohne mein Smartphone aus der Tür gestolpert bin, habe ich in Wahrheit einen Teil von mir zuhause vergessen. Ich wäre komplett aufgeschmissen gewesen! Aber zum Glück hatte ich ja meine Smartwatch dabei…

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